Appenheim im 19. Jahrhundert

Anfang 1814 räumten die Franzosen fluchtartig die linksrheinischen Gebiete, doch hinterließ ihr Abzug hier eine böse Spur: Es war der Typhus, den die demoralisierte und unterernährte „Große Armee“ eingeschleppt hatte. Die Seuche grassierte vor allem in Mainz und den Orten entlang der „Kaiserstraße“ nach Saarbrücken, doch blieb auch Appenheim nicht von ihr verschont. Das zeigen deutlich die Eintragungen in den Zivilstandsregistern: Hatte es in Appenheim (und Niederhilbersheim) 1812 und 1813 jeweils 23 Tote gegeben, so stieg deren Zahl 1814 auf 47 an (wovon die meisten in der ersten Jahreshälfte starben), sank 1815 auf 10 und erreichte -allmählich ansteigend – 1818 wieder ungefähr die alte Höhe (24). So forderte der Typhus selbst in unserem etwas abseits gelegenen Dorf viele Opfer. Den abziehenden Franzosen folgten vor allem preußische Truppen, deren Spitze unter Blücher in der Neujahrsnacht 1814 bei Kaub den Rhein überschritten hatte. Blücher und seine Soldaten -darunter viele Freiwillige – waren voll Franzosenhaß und meinten einen Befreiungskrieg zu führen. Das mochte im rechtsrheinischen. Deutschland zutreffen, im linksrheinischen galt das nicht. Dessen Bewohner sahen nämlich die einrückenden Preußen, Österreicher, Bayern usw. erneut als Besatzungstruppen an. Durchaus zu Recht, denn es gab wieder Einquartierungen, Requirierungen, Fuhrdienste und Fouragierungen. Auch die Appenheimer bekamen diese Belastungen zu spüren. Neu war allerdings eine Besatzungstruppe, die unsere Gegend trotz ihrer wechselvollen Kriegsgeschichte noch nie gesehen hatte: die Russen. Sie nahmen als Verbündete der Preußen und Österreicher am Feldzug gegen Napoleon teil und genossen natürlich den vergleichsweise hohen Lebensstandard eines „westlichen“ Dorfes wie Appenheim. In unserem Ort lagen Kosaken, die nach alten Erzählungen meist grobe, aber gutmütige Leute waren, die vor allem gut verpflegt werden wollten. Den Appenheimer Wein lehnten sie ab, verlangten stattdessen Branntwein sowie Brot und Speck.

Nicht nur die Anwesenheit fremder Soldaten, sondern auch die Verwaltungspraxis zeigte, daß das Linksrheinische mehr besetzt als befreit war. Da sich die Verbündeten auf dem Wiener Kongreß lange Zeit nicht darüber einigen konnten, wem das linke Rheinufer zufallen sollte, setzten sie eine dafür gemeinsame Verwaltung ein. So wurde unser Gebiet von einer bayerisch-österreichischen Behörde in Worms regiert. Im Appenheimer Gemeindearchiv finden sich mehrere Erlasse dieser „Landesadministrationskommission“, darunter Vorschriften zur Verpflegung und Unterbringung der alliierten Truppen, Pässe für Knechte und Mägde aus Appenheim als Bewohner der „zwischen dem Rhein, der Mosel und der französischen Grenze gelegenen Länder“. Peter Schmuck amtierte nun als „provisorischer Bürgermeister im Namen der hohen Vereinigten Mächte“. Das alles waren eher äußerliche Veränderungen, denn die meisten französischen Gesetze und Verordnungen blieben in Kraft. Das änderte sich auch nicht, als die staatliche Zugehörigkeit des linken Rheinufers 1815/16 endlich geregelt war: Der Teil nördlich der Nahe kam an Preußen, jener südlich von Worms an Bayern („Pfalz“), Mainz und sein Hinterland wurden dem Großherzog von Hessen-Darmstadt zugesprochen. Er nannte seine neue Provinz bald „Rhein-Hessen“. So wurde Appenheim eine „großherzoglich-hessische Bürgermeisterei“ und blieb streng genommen bis 1945 ein hessisches Dorf. Wie in der Franzosenzeit war Mainz als rheinhessische Provinzhauptstadt für viele Verwaltungsangelegenheiten zuständig, während die Landesregierung der Appenheimer nun für über 100 Jahre in Darmstadt saß. Auf der unteren Verwaltungsebene änderte sich zunächst wenig, denn der Zusammenhang mit Niederhilbersheim blieb ebenso bestehen wie die Zugehörigkeit zum Kanton Ober-Ingelheim. Als dieser 1835 mit dem Kanton Bingen zum „Kreis Bingen“ vereinigt wurde, begann für Appenheim die Hinwendung zur Rhein-Nahe-Stadt.

Ansonsten brachte der Übergang an Hessen-Darmstadt gar nicht so viel Neues, zumal der Großherzog 1816 versprochen hatte, in Rheinhessen „alles Gute, was Aufklärung und Zeitverhältnisse geschaffen“ hätten, beizubehalten. So bestand die Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz weiter, ebenso die Öffentlichkeit der Justiz, die Gewerbefreiheit, die Zivilehe sowie die Veräußerbarkeit und Teilbarkeit des Grundbesitzes.

Die Landwirtschaft profitierte weiterhin von ihrer Befreiung aus den Beschränkungen durch die Grundherrschaft. Kirchlich brachte die hessische Zeit zunächst einige Änderungen: Für die protestantischen Appenheimer wurde das Jahr 1822 recht wichtig, denn damals vereinigten sich auf Landesebene Reformierte und Lutheraner zu einer „Evangelisch-protestantischen Kirche“ in Hessen. Der Kalvinismus verschwand als eigenständige Konfession, doch zeigten sich gerade im Appenheimer Pfarrleben noch lange Zeit Spuren typisch reformierter Frömmigkeit, wie das Festhalten am alten kurpfälzischen Gesangbuch, die Unkenntnis von Lutherliedern beim Jubiläum 1883 und die Abneigung etlicher Gläubigen gegen das Orgelspiel in der Kirche. 1824 wurde die neue „evangelische“ Pfarrei Appenheim begründet, zu der neben dem Filial Niederhilbersheim lange Zeit noch die Protestanten von Gau-Algesheim gehörten. Die Appenheimer Katholiken blieben weiter mit denen von Niederhilbersheim Filialisten der Pfarrei Oberhilbersheim im Dekanat Gau-Bickelheim des 1823 neu errichteten Bistums Mainz, dessen Grenzen mit denen des Großherzogtums Hessen übereinstimmten. Das Verhältnis zwischen beiden Konfessionen begann sich zu entspannen, worauf schon die Tatsache hinweist, daß die Katholiken ihre Kirche den Protestanten überließen, als diese ihr Gotteshaus renovierten. Auch die Zusammensetzung des Ortsvorstandes entsprach in der hessischen (wie schon in der französischen) Zeit eher dem zahlenmäßigen Verhältnis der Konfessionen, d.h., er bestand mehrheitlich aus evangelischen Appenheimern, die auch den Bürgermeister stellten.

Wirtschaftlich war das frühe 19. Jahrhundert für Appenheim recht erfreulich, weil sich die Landwirtschaft anfangs gut entwickeln konnte. Zunächst hatte es allerdings 1816 einen empfindlichen Rückschlag gegeben: Wochenlange Regenfälle und häufige Hagelschauer von Mai bis Oktober führten zu einer schweren Mißernte bei den Hauptanbauprodukten Getreide und Wein. Zwar kam es in Rheinhessen (u.a. durch die Parzellenwirtschaft) zu keiner regelrechten Hungersnot wie in den anderen Provinzen des Großherzogtums, doch sprach man auch hier bald vom „Hungerjahr“ 1816/17, dem natürlich Verknappung und Teuerung folgten. Appenheim scheint wieder glimpflich davongekommen zu sein. Jedenfalls machte es selbst in den folgenden Jahren den Eindruck eines wohlhabenden Dorfes, in dem noch ganz das Bauerntum überwog. Die Verteilung der Berufe können wir aus einer Musterliste des hessischen „Rekrutierungskantons bei Rhein / Amt Ober-Ingelheim / Bürgermeisterey Appenheim“ ersehen, die 1817 erstellt wurde. Danach gab es damals hier 97 „Ackermänner“, 4 Küfer, 6 Schuhmacher, einen Nachwächter, je 2 Zimmermänner, Maurer, Schreiner und Krämer, je 6 Müller, Schneider und Leineweber, 3 Schmiede und Bäcker sowie einen Wagner außerdem 11 Tagelöhner. Appenheim war noch reine Landgemeinde, in der es neben den Bauern fast nur Gewerbe gab, die den Bedarf eines Dorfes einschließlich des Weinbaus abdeckten. Auch die Tagelöhner fanden wohl in der Landwirtschaft Arbeit.

Allerdings wurde die Möglichkeit dafür bald geringer, denn seit Beginn des 19. Jahrhunderts wuchs die Appenheimer Bevölkerung ständig: 1804 hatte unser Ort 611, drei Jahre später 589 Einwohner; 1815/16 waren es wieder 679, 1830 aber schon 845, vier Jahre danach sogar 865 Appenheimer. So wurde es Mitte des 19. Jahrhunderts für viele Appenheimer immer schwieriger, Arbeit und Auskommen im eigenen Ort zu finden, obwohl der Grundbesitz weiter geteilt wurde. So ist es kein Wunder, wenn sich Leute bereit fanden, die Heimat zu verlassen und „nach Amerika zu machen“. In Rheinhessen war diese Auswanderungsbewegung allerdings nicht so stark wie in den Notstandsgebieten des rechtsrheinischen Hessen. Dennoch sah die Regierung die Abwanderung nicht gern; so sandte sie auch an die Appenheimer Bürgermeisterei „Aufklärungsschriften“, die vor dem Leben in Übersee und der gefahrvollen Reise dorthin warnten. Das hielt die Auswanderungswilligen nicht ab, und so verließen zwischen 1852 und 1867 etwa 30 Familien Appenheim, meist in Richtung USA. Das erklärt auch zur Hauptsache, warum die Bevölkerungszahl Appenheims 1858 auf 833 Personen abgesunken war.

Die Auswanderungen hatten jedoch nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische Ursachen. Denn einige Jahre vorher war die Revolution von 1848/49 niedergeschlagen worden. Diese gesamtdeutsche Volkserhebung hatte versucht, aus den 38 Einzelstaaten des Deutschen Bundes ein „Deutsches Reich“ zu machen und ihm eine freiheitliche Verfassung zu geben. Dazu tagte in der Frankfurter Paulskirche eine frei gewählte „Nationalversammlung“; Symbol der Revolution waren die Farben Schwarz-Rot-Gold, die man bald auch überall in Rheinhessen sah. Wie die Appenheimer sich zu dieser Bewegung für Einheit und Freiheit verhielten, ist (noch) nicht geklärt; doch waren sie gewiß zurückhaltender als die Binger und Algesheimer Revolutionäre, die 1849 hier durchzogen, um in der Pfalz als Freischärler gegen die preußischen und bayerischen Truppen zu kämpfen. Es half nichts, die Fürsten blieben Sieger und konnten den Ruf nach Freiheit zum Schweigen bringen.

Dagegen wurde der Ruf nach Einheit immer lauter. Auch die meisten Appenheimer zeigten um die Jahrhundertmitte schon deutsches Nationalbewußtsein; während sie sich früher nur als Kurpfälzer und dann als Hessen gefühlt hatten, wollten sie nun Deutsche sein. Man empfand die Aufsplitterung des Vaterlands als Schande, außerdem war man sich einig in der Abneigung gegen den „Erbfeind“ Frankreich, dessen Macht ja gerade die Appenheimer oft genug zu spüren bekommen hatten.

All diese Strömungen machte sich – seit dem Fehlschlag von 1848/49 – Preußen zunutze. Unter Leitung Bismarcks suchte es seit 1860 Deutschland unter seiner Führung zu einigen. Zunächst drängte es Österreich durch den „Bruderkrieg“ von 1866 aus dem Deutschen Bund hinaus. Hessen-Darmstadt stand damals auf Seiten der Verlierer, mußte etwas Land an Preußen abtreten, sich aber vor allem der Berliner Politik bedingungslos anschließen. Bismarcks Kurs war inzwischen sehr populär geworden, denn er rückte eine (klein-) deutsche Einigung in greifbare Nähe – und die Abrechnung mit Frankreich. 1870 war es dann soweit: Provoziert von Kaiser Napoleon 111. traten alle deutschen Staaten unter Führung Preußens in den Krieg gegen Frankreich ein. Allenthalben herrschte große Kriegsbegeisterung, und auch in Appenheim hörte man starke Worte gegen den „Erbfeind“. Preußische Soldaten waren in den Bauernhöfen, die Offiziere im Pfarrhaus einquartiert. Über 30 Appenheimer zogen mit hessischen Divisionen in den Krieg. Zehn von ihnen fielen in den harten Kämpfen oder starben an ihren Verwundungen -eine verhältnismäßig hohe Zahl, die hier im Dorf schmerzlich empfunden wurde. Dabei darf man jedoch nicht vergessen, daß nach damaligem Verständnis die gefallenen Appenheimer den „Heldentod“ auf dem „Feld der Ehre“ gestorben waren, was ihren Angehörigen sicher über viel Leid hinweghalf. 1874 errichteten die „Appenheimer Frauen und Jungfrauen“ den gefallenen und heimgekehrten Kriegern neben der evangelischen Kirche ein Denkmal. Auf ihm steht eine „Germania“ mit Krönungsmantel, Lorbeer, Schwert und Schild- Sinnbild des geeinten, siegreichen und selbstbewußten Deutschland.

Denn das Ergebnis des Krieges von 1870/71 war die Gründung eines „Deutschen Reiches“ unter Führung Preußens. In Appenheim feierte man das mit Gottesdiensten und der Pflanzung einer „Friedenslinde“. Begeistert vermerkte der evangelische Pfarrer in seiner Chronik: „So endigte dieser von Frankreich frivol hervorgerufene Krieg durch Gottes Gnade, die Tapferkeit seines unvergleichlichen Heeres und die Tüchtigkeit seiner Führer in einem für Deutschland glorreichen, wenn auch mit schweren Opfern errungenen Frieden, durch den Frankreich an Deutschland fünf Milliarden Francs Kriegsentschädigung bezahlen und die früher geraubten Provinzen Elsaß und Deutsch-Lothringen zurückgeben mußte. Höher noch ist zu schätzen die Wiederherstellung des deutschen Reiches unter dem protestantischen Kaiser Wilhelm“.

So brachte die Reichsgründung neben der lang ersehnten politisch-wirtschaftlichen Einigung Deutschlands gerade der evangelischen Mehrheit ein neues Selbstbewußtsein. Dagegen taten sich die Katholiken – in Appenheim ja in der Minderheit- mit dem neuen Reich schwerer, zumal bald zwischen Kirche und Staat der „Kulturkampf‘ ausbrach. Er beruhte vor allem auf dem Gegensatz zwischen dem Nationalstaat und der gerade seit 1870 wieder stärker an den Papst in Rom gebundenen „internationalen“ katholischen Kirche. In Hessen wurde der Kulturkampf zwar weniger heftig als in Preußen geführt, doch blieben auch hier seit etwa 1875 viele Pfarreien unbesetzt, darunter Oberhilbersheim, wozu die Appenheimer Katholiken ja gehörten. Die konfessionellen Fronten im Dorf verhärteten sich wieder.

Im Zusammenhang mit dem Kulturkampf stand auch das Bestreben des Staates, den kirchlichen Einfluß im Schulwesen zurückzudrängen. Und so ist es gewiß kein Zufall, daß in Appenheim 1874 eine „Communalschule“ errichtet wurde. Denn sie entstand aus der Vereinigung der beiden Konfessionsschulen, die es seit Ende des 16. bzw. 18. Jahrhunderts gab. Die Franzosen – die wenig Geld und Sinn für das Bildungswesen hatten – ließen beide als „Primärschulen“ bestehen. Nach der hessischen Kircheneinigung von 1822 wurde die reformierte als „evangelische“ Schule weitergeführt, zeitweilig sogar mit zwei Lehrern. 1857 erhielt diese Schule einen Neubau (an der Stelle der heutigen Spar- und Darlehnskasse); das Gebäude war von der Gemeinde finanziert, wurde aber – nach Meinung des Pfarrers – „durch die Sparsamkeit des Bürgermeisters, die nicht am rechten Ort war, nicht das, was es hätte werden können“. So waren sicher die meisten Appenheimer einverstanden, als 1880 an der Südseite des Dorfes ein Neubau für die „Communalschule“ entstand. Zwar erwies sich die Fundamentierung wegen des vielen Wassers am Bauplatz als sehr schwierig, doch konnte die neue Schule (heute Sitz der Ortsgemeindeverwaltung) im Herbst 1881 eingeweiht werden; allerdings wurden die Schulräume im Rathaus und der Evangelischen Schule bis zum Ersten Weltkrieg weiter benutzt. Die Schule hatte zwei Lehrerstellen, von denen die erste stets mit einem Protestant, die zweite mit einem Katholiken besetzt wurde. In zwei Klassen wurden durchweg etwa 160-170 Schüler unterrichtet.

Zum neuen Schulgebäude an der Straße nach Niederhilbersheim kamen bald Privathäuser hinzu, und auch an anderen Stellen wuchs der Ort über seinen alten Kern hinaus. Zusehends veränderte sich das Aussehen von Appenheim. 1886 wurden jene 80 Effen gefällt, die als Teil der Ortsbefestigung das Dorf an der Nordostseite umgaben. Im gleichen Jahr vermerkte der Pfarrer eine weitere Neuerung: „Als ein Zeichen fortschreitender Kultur ist die Einführung von Straßenbeleuchtung zu betrachten, vorläufig durch Anbringung von 5 Laternen.“ Einige Jahre später (1891) kam die Wasserleitung hinzu, kurz darauf wurde von dem 1891 gegründeten „Soldaten- und Turnverein“ die Turnhalle gebaut. Ein reges Vereinsleben entfaltete – im engen Zusammenhang mit der Pfarrei – auch der 1861 gegründete „Männergesangverein“, der sich später mit dem noch älteren evangelischen Männerchor zum „Schubertbund“ zusammenschloß.

Überall schien es seit der Reichsgründung voranzugehen. Das sieht man schon an der Bevölkerungsentwicklung von Appenheim: So stieg die Einwohnerzahl von 833 im Jahr 1858 auf 871 (1861), betrug 1880 879 Personen und erreichte 15 Jahre später mit 961 ihren Höhepunkt. Damit wich Appenheim vom rheinhessischen Gesamttrend ab, denn die Landbevölkerung der Provinz nahm seit ca. 1860 zugunsten der Rheinstädte ständig ab. Erst nach der Jahrhundertwende war diese Entwicklung auch in Appenheim zu spüren, dessen Einwohnerzahl dann aber innerhalb von fünf Jahren um 100 sank (1905: 933, 1910: 839 Einwohner). Die Landwirtschaft hatte zwar-wegen des großen deutschen Marktes und Bismarcks Schutzzollpolitik – zunächst einen ungeahnten Aufschwung genommen, doch drang bald auch ausländische Konkurrenz nach Deutschland und die Bodenerträge waren nicht beliebig zu steigern. Außerdem blieben ja die Bauern bei allem technischen Fortschritt immer von den Launen der Natur abhängig, die weiterhin ihr Leben bestimmte. Deshalb nahm die „Witterung“ auch stets den ersten Platz in den Appenheimer Pfarrchroniken ein. Die Eintragungen zeigen, daß das Wetter schon damals unberechenbar war. So z.B. 1882, also vor ziemlich genau 100 Jahren:

„Der Winter verlief in äußerst gelinder Weise ohne jeglichen Schnee; welcher Umstand sich für die ärmeren Leute als sehr günstig erwies, indem dieselben hierdurch in den Stand gesetzt wurden, den ganzen Winter hindurch Futter auf den Äckern zu holen. Am 12. März trat sogar Sonnenwetter ein, so daß beispielsweise am 13. März der Thermometer 14° im Schatten zeigte, am 19. März sogar 16° im Schatten . . . Mitte Mai gab es wieder kalte Nächte und in der Nacht vom 16. auf 17. Mai so starken Frost, daß die offenen Frühkartoffeln und Bohnen erfroren, sowie die nieder gelegenen Weinberge die Hälfte ihrer Augen verloren . . . der dritte Pfingsttag (30. Mai) brachte uns ein starkes Gewitter und furchtbaren Hagelschlag im Gefolge, wie seit Menschengedenken keines erlebt wurde . . . .Viele Reben wurden zerschlagen, Baumäste abgerissen und im Dorf selbst eine Menge Dachziegeln durchlöchert und Fensterscheiben zersplittert. In der,Meßgewann` lagen ganze Kornäcker geschlagen darnieder, ebenso in der Laurenziberger Gemarkung, wo auch die Weinberge unbeschreibliche Noth litten . . . Der Juni zeichnete sich durch sehr muhe Witterung aus, am 17. Juni in der Frühe zeigte der Thermometer sogar nur 2° Wärme, so daß Frost eintrat: Die Rasen in den Gärten waren starr, und weiche Blumen und Pflanzen in denselben wie auch Bohnen und Kartoffeln in den Thalfeldern sind schwarz.“

Trotz solcher Rückschläge ging es den Appenheimern Ende des 19. Jahrhunderts verhältnismäßig gut. Natürlich gab es auch Spannungen, Gegensätze zwischen reichen und armen Bauern, zwischen Landwirten und Arbeitern, von denen übrigens viele bei der Eisenbahn, manche bei der auf dem Westerberg kurzfristig betriebenen Bohnerzgrube arbeiteten. Manchmal flackerten noch alte konfessionelle Gegensätze auf, z. B. wenn sich die Protestanten über das „herrische, ultramontane und reichsfeindliche Auftreten“ eines katholischen Lehrers beschwerten. Bei den Gemeinderatswahlen gab es seit etwa 1880 eine „gelbe“ und eine „schwarze“ Partei, die aber nichts mit Konfessionen oder Weltanschauungen zu tun hatten, sondern rein persönliche Gruppierungen waren. Bei den Wahlen zum Reichstag entfielen 1893 in Appenheim 68 Stimmen auf den nationalliberalen Kandidaten Avenarius, 58 auf den Freisinnigen A. Träger, 22 auf den „ultramontanen“ Zentrumskandidaten Wasserburg und 18 auf den Sozialdemokraten Dörr. Zehnjahre später erhielt der Bewerber der Nationalliberalen 31 der des Zentrums 32, der Sozialdemokratie 9, der der „freisinnigen“ Volkspartei aber 79 Stimmen. Bei der Stichwahl stimmten dann 134 Appenheimer für den Freisinnigen und 56 für den Zentrumspolitiker. Die Reichstagswahl von 1912 brachte einen knappen Sieg der Nationalliberalen.

Obwohl durch das Mehrheitswahlrecht verzerrt, lassen diese Ergebnisse doch die von den Appenheimern bevorzugten politischen Richtungen erkennen: es waren die liberalen und eher „rechts“ stehenden Parteien. Zentrum und SPD verfügten über eine kleine, aber ziemlich beständige Anhängerschaft, die natürlich vor allem in den Reihen der katholischen Minderheit bzw. der Appenheimer (Eisenbahn-)Arbeiter zu suchen ist. In der „öffentlichen Meinung“ des Dorfes herrschte freilich eine breite Zustimmung zu Staat und Politik des wilhelminischen Deutschland. Die Trauer, die hier im „Dreikaiserjahr“ 1888 wegen des Todes von Wilhelm I. und Friedrich III. geäußert wurde, war gewiß echt, ebenso die Dankbarkeit, die beim Pflanzen der „Gedächtnislinde“ zu Ehren Wilhelms I. (1897) vor der Kirche in Reden und Predigt zum Ausdruck kam. Gern beging man die nationalen Gedenktage, wie die Feier zum 25jährigen Jubiläum der Schlacht von Sedan, die den Krieg von 1870/71 entschieden hatte: „Am 1. September fand mit Musik und Gesangsvorträgen beider Vereine mit Reden und Toasten in der Turnhalle eine Vorfeier statt, nach deren Beendigung unter Vorantritt der Musik und Gesang von patriotischen Liedern ein Festzug zu dem auf dem Klopp angezündeten Freudenfeuer sich bewegte. Am Montag, dem 2ten Sept. fand vor überfüllter Kirche ein Festgottesdienst statt, abends 9 Uhr ward großes Feuerwerk vor dem Kriegerdenkmal abgebrannt und die Veteranen des Krieges erhielten in der Wirthschaft von Schmuck Wittwe von der Gemeinde ein Frei-Essen und jeder 2 Flaschen Wein. Der Gemeinderat und viele Bürger nahmen daran teil.“ Stolz auf das Erreichte und zufrieden mit dem Bestehenden ging Appenheim ins 20. Jahrhundert. Der technische Fortschritt schien unbegrenzt: Auf dem Westerberg war ein „Dampfpflug“ in Betrieb genommen worden und am B. März 1912 überflog das „Zeppelinluftschiff Viktoria Luise“ in geringer Höhe das Dorf.

Wichtigstes Ereignis zu Beginn des neuen Jahrhunderts war für die Mehrheit der Appenheimer die Renovierung der evangelischen Kirche, die Würth in seiner Chronik ausführlich beschrieben hat. 1905 begannen die Arbeiten an dem Gotteshaus, das nun endlich einen Turm erhielt. Jetzt fertigte die hessische Denkmalspflege nach Vorbildern aus der Barockzeit einen Entwurf an, der 1906 zur Ausführung kam. Der Turm trug schon einen hölzernen Helm als die Fertigstellung wegen statischer Mängel in den Fundamenten von den staatlichen Baubehörden gestoppt wurde. Unfertig „stand hernach der Turm das ganze Jahr über zum Staunen und Spott der Nachbargemeinden“. Dann erfolgte durch eine andere Firma der Abbruch und Neuaufbau nach leicht abgewandeltem Entwurf. Am 29. November 1908 konnte dann die – auch innen renovierte evangelische Pfarrkirche wiedereröffnet werden. Als Pfarrer Würth aus diesem Anlaß eine Geschichte von Appenheim herausgab, schloß er seine Chronik mit den Worten: „Wir Deutsche fürchten Gott und sonst nichts auf der Welt.“ 

Verfasser: Dr. Franz Dumont aus Mainz Beitrag von 1983

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