Vom ersten zum zweiten Weltkrieg

Mit diesem Ausspruch Bismarcks hatte der Pfarrer die Stimmung der Appenheimer getroffen. Man war national gesinnt, glaubte an Deutschlands Größe und die Weisheit seiner Staatsmänner. 1913 spendeten in Appenheim Pfarrer, Lehrer, Gemeindeund Kirchenvorstand Geld für ein Bismarckdenkmal auf der Binger Elisenhöhe. Beim Turmbau der evangelischen Kirche hatte man die Grundsteinurkunde nach den Regierungsjahren „unseres tatkräftigen Kaisers Wilhelm II.“ datiert. Gerade dieser aber meinte, Deutschland müsse unbedingt Großmacht, ja Weltmacht werden. Das mußte zwangsläufig zu Konflikten mit der Seemacht England führen; zu Frankreich bestand seit 1871 ohnehin ein sehr gespanntes Verhältnis. Im Osten drängte Rußland auf den Balkan und bedrohte das mit Deutschland verbündete Österreich-Ungarn, das als Vielvölkerstaat schon von innen gefährdet war. Die Ermordung des österreichischen Thronfolgers (Juni 1914) löste dann den bewaffneten Konflikt zwischen den „Mittelmächten“ Deutschland und Österreich einerseits und der „Entente“ (England, Frankreich, Rußland) andererseits aus.

Erfüllt vom Stolz auf die eigene Nation und vom Hag auf andere zogen die Völker gegeneinander in den Krieg. An vielen Orten Deutschlands herrschte nach dem Bekanntwerden der „Mobilmachung“ Anfang August 1914 großer Jubel, marschierten die Soldaten froh, ja begeistert an die Front. Nicht so in Appenheim, wo der gewiß sehr „nationale“ Pfarrer in seiner Chronik vermerkte:

Von Begeisterung war in unserem Dorfe nichts zu merken. Keine Vaterlandslieder, kein Hurra-Rufen ertönte . . . Der Gedanke an das Düstre, Schwere, das bevorstand, der Gedanke, unsre Männer, Söhne müssen fort, ließ keinen Enthusiasmus aufkommen . . . Überall das Gefühl, als sei ein großes Unglück geschehen, das, obwohl man es ja eigentlich erwartet hatte, doch eine Art starren Schreckens allen einflößte. In großen Gruppen standen die Männer und besprachen ihren Marschbefehl, in den Häusern sah man weinende Frauen; besonders die klagten, deren Angehörige bereits unter den Fahnen waren. Aber bei aller Ergriffenheit und allem Schrecken zeigte sich doch auch bei unsern Dorfbewohnern die ruhige Entschlossenheit, die bereit war, sich zu wehren gegen den mächtigen, wohl überlegten feindlichen Überfall und schon regte sich in ihnen der tiefe, ehrliche Zorn, der so furchtbar für den Feind geworden ist. Besonders gewaltig flammte dieser Zorn auf, als England uns den Krieg erklärte, aber auch gegen den alten Erbfeind Frankreich, von dem man – wenn es schlimm würde – für unsere Gegend die erste und größte Gefahr fürchtete. In solch ehrlichem Zorn hörte ich einen der Ausrückenden sagen: ,Und wenn der Rhein von unserem Blute rot wird, sie sollen ihn nicht haben.` Vaterlands- und Familienliebe gab wohl den meisten der ausziehenden Krieger diese Entschlossenheit mit.“

So zogen die Appenheimer in den Krieg. Zunächst blieben noch viele Bauern zurück, die aber sehr wohl wußten, daß es mit der ruhigen Zeit vorbei war. Schnell bestellten sie noch ihre Felder, bevor ihnen die Pferde abgenommen wurden. Daß dazu ein Sonntag herhalten mußte, ließ ihnen selbst der Pfarrer durchgehen. Ja, er verschob den Gottesdienst sogar auf abends; dann segnete er die abziehenden Krieger, woran auch viele Katholiken und die ortsansässigen Juden teilnahmen.

Vierjahre tobte der erste Weltkrieg, am schlimmsten in Belgien und Frankreich, aber auch in Polen, Rußland, auf dem Balkan und in Italien. 143 Appenheimer nahmen an den Kämpfen teil, die meisten von ihnen an der Westfront, wo es nach den ersten großen deutschen Vorstößen schon bald zum erbitterten „Stellungskrieg“ kam. Die Erlebnisse in den „Materialschlachten“ der hochgerüsteten Gegner, in der „Hölle von Verdun“, blieben den Appenheimern, die als „Feldgraue“ dienen mußten, immer in Erinnerung.

Doch nicht nur draußen an der Front, auch im Dorf wurde der Krieg mehr und mehr zum Alltag. Kurz nach dem Abmarsch der eigenen-Leute bekam Appenheim eine Einquartierung von 1200 Mann, darunter viele Rekruten; sie wurden hier vereidigt und vom Pfarrer über den Sinn des Fahneneids in der Stunde der Not belehrt. In der Pfarrkirche gab es nun „Kriegsgebetsstunden“, der Gemeinderat befaßte sich mit Quartierlisten, der Heranziehung von Appenheimern zum Kriegsdienst und der „militärischen Vorbereitung der Jugend“. Galt diese vor allem den Buben, so sammelten die Appenheimer Mädchen „Liebesgaben“ für die Soldaten, brachten Lebensmittel zur Gau-Algesheimer „Erfrischungsstelle“ für Frontsoldaten oder gaben solche in den Binger und Mainzer Lazaretten ab und nähten Hemden für Verwundete. Eine für die geschädigte Zivilbevölkerung Ostpreußens, für die Kriegsgefangenen und rief zur Zeichnung der „Kriegsanleihe“ auf. Als in der zweiten Kriegshälfte sich die Hungerblockade der Alliierten in den Ballungsgebieten Deutschlands sehr bemerkbar machte, nahmen die Appenheimer im Sommer 1917 etliche Großstadtkinder aus Mainz und Barmen zur Erholung auf. Wenn sich auch hie und da Kritik an den Heerführern, ja am Krieg überhaupt regte, so stand die Mehrheit der Appenheimer doch hinter der Regierung, die Deutschland im Kampf„gegen eine Welt von Feinden“ sah. Nicht froh, aber durchaus verständnisvoll sahen die Appenheimer, wie die Glocken der Pfarrkirche, ja sogar Orgelpfeifen in die „Waffenschmiede des Vaterlandes“ wanderten. Die 400 Jahrfeier der Reformation (1917) hatte in unserem Dorfwie allenthalben – starke nationale Untertöne, und die Kriegsanleihe wurde noch immer eifrig gezeichnet. Amtliche Propaganda, wie sie z. B. die Oberste Heeresleitung mit dem Flugblatt „Deutsche, wehrt Euch!“ betrieb, war in Appenheim eigentlich unnötig. Denn auch hier glaubte man – trotz vereinzelter feindlicher Fliegerangriffe – noch im Sommer 1918 fest an einen Sieg des deutschen Heeres.

Umso bitterer war das Erwachen, als sich im Herbst 1918 das Gegenteil herausstellte: Die Deutschen mußten vor der Gegenoffensive der Alliierten zurückweichen und auch im Südosten kam die Front der Mittelmächte ins Wanken. Bereits Ende September streckten Reichsregierung und Militärs Friedensfühler zu den Alliierten aus, denn bei den Soldaten gärte es. Im Reich selbst leitete der Kaiser halbherzige Reformversuche ein, doch die Katastrophe war nicht mehr aufzuhalten. Anfang November meuterten mehrere Truppenverbände, Kaiser und Fürsten traten zurück, am 9. November wurde in Berlin die Republik ausgerufen und am 11. mußten die Deutschen mit Franzosen, Engländern und Amerikanern einen Waffenstillstand zu harten Bedingungen schließen. Daß die Revolution vom November 1918 mit einer militärischen Niederlage gekoppelt war, erwies sich im weiteren Verlauf der deutschen Geschichte als folgenschwer, zumal die jetzt eingeführte Demokratie von der Mehrheit des Volkes nicht richtig bejaht wurde.

All dies kann man recht gut an den Appenheimer Reaktionen auf Revolution und Kriegsende ablesen: Sehr schnell breitete sich auch hier die „Dolchstoßlegende“ aus, wonach das deutsche Heer nicht geschlagen worden wäre, hätte die Heimat nicht mit dem Umsturz begonnen.

So erschien dem Appenheimer Pfarrer der 9. November 1918 nicht als Neuanfang, sondern als Beginn einer „Zeit tiefster Erniedrigung und ungeahnten, ungeheuren Zusammenbruchs nach außen und innen.“ Eine „Revolution“ fand in Appenheim ohnehin nicht statt, denn der wohl von einigen „Eisenbahnern“ gewünschte „Arbeiter- und Soldatenrat“ kam gar nicht erst zustande. Stattdessen bildete der Gemeinderat am 17. November 1918 eine „Bürgerwehr“, die für Ruhe und Ordnung sorgen sollte. Vom 26. November bis 3. Dezember verpflegten die Appenheimer die deutschen Soldaten, die entsprechend der Waffenstillstandsbedingungen das linke Rheinufer binnen 4 Wochen verlassen haben mußten. „Die heimkehrenden Krieger hatten nur noch einen Gedanken, möglichst rasch in ihre Heimat und zu ihren Angehörigen zu kommen“. Auch die Appenheimer Krieger kehrten heim; zu ihrem Empfang hatte sich das Dorf festlich geschmückt, und an den Ortseingängen standen Ehrenbögen. Allerdings hatte der Weltkrieg 19 Appenheimern das Leben gekostet – fast doppelt so vielen wie der Krieg von 1870/71. Acht Appenheimer waren gefallen, ebenso viele an ihren Verwundungen gestorben, das Schicksal der übrigen blieb ungewiß.

Diese Verluste wogen umso schwerer, als der Krieg mit einer Niederlage verbunden war. Deren Außmaß zeigte sich vor allem darin, daß die Franzosen das linke Rheinufer besetzten. Für Appenheim war das die fünfte französische Besetzung, doch wohl die erste, die wirklich als „Schmach“ empfunden wurde. Dies vor allem deshalb, weil auch die Appenheimer spätestens seit der Reichsgründung ein starkes Nationalbewußtsein hatten und die Franzosen gerade darauf keinerlei Rücksicht nahmen, ja sogar das Linksrheinische von Deutschland zu trennen suchten. Am 26. Dezember 1918 bekam Appenheim die erste Einquartierung von Franzosen; bis Ende des folgenden Jahres lag französische Infanterie und Artillerie hier. „In dieser Zeit“, so vermerkte der Pfarrer, „hatte Appenheim das Aussehen eines französischen Garnisonsortes. Am Eingang des Dorfes wurden Schilderhäuser (in den französischen Farben) aufgestellt, ebenso am Rathaus, genaue Verhaltungsvorschriften der Truppe gegenüber den Bürgern bekanntgegeben, bei deren Nichtbefolgung man in Arrest fliegen konnte, was auch manchem Appenheimer tatsächlich passierte.“

So beschwerte sich der französische Ortskommandant im Mai 1919 über tätliche Angriffe auf einen Soldaten und verlangte – unter Androhung von hohen Geldstrafen – die Namhaftmachung des Täters. Der Gemeinderat suchte die Sache gütlich beizulegen; kategorisch lehnte er dagegen das Ansinnen der Franzosen ab, 18 Appenheimer zum Pferdeputzen abzuordnen. Solch kleinliche Schikanen waren es vor allem, die das Verhältnis zwischen Franzosen und Deutschen vergifteten. Dagegen wurden die Heu-, Stroh- und Lebensmittellieferungen sowie die Fuhrdienste eher als lästig, aber normal angesehen. Der Unmut der Appenheimer schlug in Empörung um, als die Franzosen 1923 ihr Besatzungsgebiet wiederrechtlich ausdehnten („Ruhrkampf „) und gleichzeitig die Trennung der Rheinlande von Deutschland betrieben. Wegen des „Ruhrkampfs“ hatte die Berliner Regierung die Rheinländer zum „passiven Widerstand“ aufgerufen, vor allem zum Boykott des von den Franzosen übernommenen Eisenbahnwesens. So beschloß der Appenheimer Gemeinderat im Februar 1923: „Für angebrachte Unterstützung der infolge des Bahnstreiks erwerbslos gewordenen Arbeiter muß unter allen Umständen gesorgt werden.“ Die Franzosen schlugen hart zurück, nahmen willkürliche Verhaftungen vor und verwiesen die Teilnehmer am passiven Widerstand des Landes. So wurde kurz nach Ostern 1923 ein Appenheimer Landwirt verhaftet und ins unbesetzte Rechtsrheinische abgeschoben; im Juni desselben Jahres mußten 11 Eisenbahner mit ihren Familien Appenheim verlassen. Auf entschiedene Ablehnung stieß in unserem Dorf dann die Bewegung der Separatisten, die die Rheinlande von Deutschland trennen und eng an Frankreich anschließen wollten. Dazu vermerkte der Pfarrer in seiner Chronik: „In hiesiger Gemeinde fand die „Rheinische Republik“ -von einigen fanatischen Katholiken abgesehen – keinen Anklang. Auch bei diesen flaute die Begeisterung für die Republik wesentlich ab, als ein rheinisch-republikanisches Auto in der Hassemer-Mühle gegen den Willen des Besitzers größere Mengen Mehl und Kartoffeln holte.“ Abgesehen von seinem Seitenhieb auf die andere Konfession hatte der Pfarrer insgesamt sicher Recht: Die „Rheinische Republik“ scheiterte allerorten am entschiedenen Widerstand der Bevölkerung.

Wie groß in Appenheim der Groll gegen die Separatisten war, zeigt ein Vorfall aus dem Jahr 1926: An einem Winterabend läutete die Sturmglocke, alles kam aus den Häusern, man sah aber nichts brennen. Da hieß es: In der Hassemer-Mühle sind Räuber, vielleicht Separatisten. Flugs eilten mehrere Appenheimer zur Mühle, stellten aber vorher noch Straßensperren auf. An der Mühle stand nur ein Pkw, dessen Fahrer auf zudringliche Fragen nur ausweichende Antworten gab. Deshalb wurde er von einem Appenheimer kurzerhand verprügelt. Schon bald stellte sich aber heraus, daß hier nur ein Metzger mit einem Taxi von Mainz gekommen war, um ein Schlachtpferd zu kaufen. Schnell sahen die Appenheimer „Helden“ ihren Irrtum ein und riefen einander zu: „Geht heim, wir sind blamiert“. Für den Appenheimer, der den Taxifahrer verprügelt hatte, gab es allerdings ein unangenehmes gerichtliches Nachspiel.

So machte Appenheim in den nächsten Wochen Schlagzeilen – freilich keine besonders ruhmreichen. Der Vorfall zeigt aber, wie gespannt die Stimmung im Ort zu Zeiten der französischen Rheinlandbesetzung war. Die allgemeine politische Einstellung der Appenheimer im ersten Jahrzehnt der Weimarer Republik läßt sich am besten an den Wahlergebnissen für den Reichstag und den hessischen Landtag ablesen, wie sie von Michael Rauh zusammengestellt und analysiert wurden. Danach erhielten die liberalen Parteien DDP und DVP die meisten Stimmen, doch konnte auch die SPD ihren Anteil verbessern; ziemlich gleich blieb dagegen das Ergebnis des katholischen Zentrums. Trotzdem bestanden in unserem Dorf noch viele Vorbehalte gegen die Demokratie, gegen den Parlamentarismus und das „Parteiengezänk“. Von der wirtschaftlich-sozialen Krise der Weimarer Republik, vor allem von der Inflation 1923, war Appenheim allerdings weniger betroffen, da viele Bauern sich selbst versorgen konnten. Freilich befaßte sich der Gemeinderat 1923 öfters mit Unterstützungsgesuchen von „Erwerbslosen“, mit Winterbeihilfen für Arme und mit dem in die Krise geratenen Kleingewerbe. Noch aber war die Landwirtschaft vorherrschend, von der 1925 rund 60 Prozent der Appenheimer lebten. In diesem Jahr wurde auch eine Postomnibuslinie von Oberhilbersheim nach Gau-Algesheim eröffnet, die besonders den Appenheimer Eisenbahn- und Fabrikarbeitern zugute kam. Die Errichtung bzw. Auflösung einer evangelischen Krankenschwesternstation löste in diesen f ahren heftige Debatten, teilweise konfessionell bedingt, aus. Einig war man sich dagegen im Bau eines Kriegerdenkmals, das den Opfern des Weltkriegs auf dem Friedhof errichtet werden sollte. Am 23. September 1928 wurde es eingeweiht, wobei neben dem katholischen und dem evangelischen Pfarrer auch ein Vertreter der jüdischen Gemeinde Gau-Algesheim sprach.

Noch freudiger begingen die Appenheimer zwei Jahre später den Abzug der Franzosen. Wie allenthalben, so fand auch in Appenheim am 30. Juni 1930 eine „Befreiungsfeier“ statt. „Auch wir“, so notierte der Pfarrer, „hatten auf dem Westerberg ein Feuer angezündet. Die ganze Gemeinde, alle Vereine und die Lehrer mit den Schulkindern sowie Bürgermeister und Pfarrer zogen unter Glockengeläute von der Turnhalle zum Kriegerehrenmal. Dort hielt nach verschiedenen Darbietungen der Schreiber dieser Zeilen eine Festrede.“ Zu dem Festakt, der am nächsten Tag in der Schule stattfand, stiftete der Gemeinderat jedem Schulkind einen „Bubenschenkel“. Solche gab es auch bei den Feiern, die jeweils im Juli/August zum Gedenken an die demokratische Verfassung von 1919 stattfanden. Daß es um diese „Verfassungsfeiern“ im Gemeinderat immer wieder zu Auseinandersetzungen kam, zeigt jedoch, wie wenig Rückhalt die Demokratie auch in unserem Dorf hatte. Mal wurde die Abhaltung der Feier nur mit knapper Mehrheit befürwortet, mal ganz abgelehnt, obwohl die SPD ausdrücklich einen kostenlosen Redner in Aussicht stellte. 1932 lehnten alle Gemeinderäte bis auf einen Vertreter der Sozialdemokraten – die Ausrichtung einer Verfassungsfeier ab. Doch damals war die Weimarer Republik ohnehin schon am Ende. Seit 1929/30 hatte die Weltwirtschaftskrise auf Deutschland übergegriffen, zum Zusammenbruch vieler Firmen, vor allem aber zu einer erschreckend hohen Arbeitslosigkeit (über 6 Millionen Menschen im Jahr 1932) geführt. Die Zerstrittenheit der Parteien, die inneren Mängel der Weimarer Verfassung, die dauernden Wahlen und die Hetze der Links- und Rechtsextremen gegen das „System“ gefährdeten bereits den Bestand der Demokratie. Hinzu kamen die wirtschaftlichen Folgen der Niederlage von 1918, besonders die von den Siegern im Versailler Friedensvertrag verlangten „Reparationen“. All das war kaum mehr zu bewältigen.

Auch in Appenheim gewann jetzt die „Nationalsozialistische Deutsche Arbeiter Partei“ unter Adolf Hitler (1889-1945) rasch an Boden. Diese rechtsradikale, „faschistische“ Bewegung lehnte die demokratische Staatsform ganz offen ab, propagierte stattdessen den totalen Staat, der dem „Führer“ folgte und in dem sich jeder Einzelne dem „Volksganzen“ vollkommen unterzuordnen hatte. Diese von den „Nazis“ angestrebte „Volksgemeinschaft“ sollte auch rassisch eine Einheit sein; deshalb wollte Hitler die Juden – die er ohnehin für den Weltfeind Nr. 1 hielt – aus Deutschland hinausdrängen, ja, ganz ausmerzen. Außenpolitisch forderte die NSDAP die Aufkündigung des „Schmachfriedens“ von Versailles und die Ausdehnung Deutschlands nach Osten, wo der angeblich so notwendige Lebensraum für unser Volk liege. Wirtschaftspolitisch versprach die Partei eine rasche Beseitigung der Arbeitslosigkeit, griff „Kommunisten und Kapitalisten“ gleichermaßen an und kündigte die Schaffung eines starken Bauerntums an.

Viele dieser Forderungen und Versprechungen waren im Volk populär. Daß die Nazis ihre radikale Rassenlehre wahrmachen würden, glaubten viele nicht; andere fielen -durchaus guten Willens -angesichts der Dauerkrise des Staates auf die Parolen von der „nationalen Erneuerung“ herein. So auch in Appenheim, wo die Nationalsozialisten bei den zwei Reichstagswahlen von 1932 ihren ohnehin schon großen Anteil von 45 auf 47 Prozent steigern konnten. Zwar gab es unter den Appenheimern noch immer treue Anhänger von SPD und Zentrum, doch wird der Pfarrer die Stimmung der Mehrheit getroffen haben, als er Ende 1932 schrieb: „Groß waren die politischen Spannungen am Jahresende. Es war in den Dörfern ein großes Hoffen und Warten auf Adolf Hitler.“ Vier Wochen später hatte das Warten ein Ende, es kam zur Machtergreifung der Nazis. In der Ortschronik lesen wir dazu: „Groß war weithin die Freude, als am 30. Januar 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde.“ Viel zurückhaltender als der evangelische äußerte sich damals der katholische Pfarrer: Ob diese Machtergreifung für das deutsche Volk ein wahrer Segen ist oder ein Fluch, darüber mag einst die Geschichte und die Nachwelt richten.“ Diese ganz unterschiedlichen Wertungen waren weniger eine Sache der Konfession als der Person. Denn der 1932/33 in Appenheim amtierende evangelische Pfarrer gehörte zum „nationalen“ Flügel des deutschen Protestantismus, der unter Führung des „Reichsbischofs“ Ludwig Müller zumindest anfangs eng mit den Nazis zusammenarbeitete. Daher heißt es in der Pfarrchronik über die für die Nazis hier so erfolgreichen Reichstagswahlen (siehe den Aufsatz von Michael Rauh) und die folgenden Ereignisse: „Am 5. März wurde ein neuer Reichstag gewählt, mit dessen Zusammentritt in der Garnisonskirche in Potsdam am 21. März eine neue Epoche deutscher Geschichte beginnt. Auch in unseren Dörfern stimmten am 5. März große Mehrheiten für Adolf Hitler und sein Werk. Fackelzüge und Schulfeiern ließen die beiden Tage zu besonderen Festtagen werden. Der 1. Mai, der Tag der nationalen Arbeit, wurde mit großer Begeisterung feierlich begangen.“ Die Machtergreifung der Nationalsozialisten ging also auch in Appenheim fast ohne jeden Widerstand vor sich. Am 16. März 1933 vermerkt das Gemeinderatsprotokoll: „Auf Anordnung der Schulbehörde findet am kommenden Samstagvormittag für sämtliche Schulen aus Anlaß des Regierungswechsels in Hessen eine Schulfeier mit anschließendem Umzug durch die Straßen statt. Es ist beantragt, bei dieser Gelegenheit den Schulkindern nach althergebrachter Sitte Bubenschenkel zuschenken.“ Inder anschließenden Abstimmung verweigerte nur ein (sozialdemokratisches) Ratsmitglied seine Zustimmung. Natürlich konnte es seine Stellung nicht mehr lange halten und war bereits durch einen anderen ersetzt, als der AppenheimerGemeinderat sich nach der „Gleichschaltung“ aller Reichs-,Landes- und Ortsbehörden am 11. Mai 1933 neu konstituierte: „Die Ratsmitglieder, so heißt es im Protokoll, werden durch Handschlag an Eidesstatt verpflichtet und in ihren Dienst eingewiesen . . .

Nach kurzer Begrüßungsansprache des Ortsgruppenleiters der NSDAP schließt der Bürgermeister die gewiß denkwürdige erste Sitzung.“ Wie rasch die Anpassung an das Nazi-Regime ging, zeigt die Tatsache, daß auch in Appenheim bereits im Mai mehrere Straßen umbenannt worden waren. Neben einer Hindenburg- gab es hier nun eine Adolf-Hitler- und eine Horst-Wessel-Straße. Das waren jedoch nur äußere Anzeichen einer tiefgreifenden Umgestaltung, suchte doch die Nazi-Diktatur alle Lebensbereiche zu erfassen. Dafür sorgten auch in unserem Dorf ein Ortsgruppenleiter, ein Ortsbauernführer sowie der Stützpunkt- bzw. Zellenleiter. Bezeichnend für die Einheit von Partei und Staat war, daß die Hauptsatzung der Gemeinde im Juni 1935 „mit Zustimmung des Beauftragten der NSDAP“ erlassen wurde. Auch die Verpflichtung neuer Gemeinderäte drei Monate später stand ganz im Zeichen des nationalsozialistischen „Führerprinzips“, denn die Eidformel lautete: „Ich schwöre: Ich werde dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes treu und gehorsam sein, die Gesetze beachten und meine Amtspflichten gewissenhaft erfüllen, so wahr mir Gott helfe.“

Die Diktatur war inzwischen zum Alltag geworden. Arbeitsdienst und Winterhilfswerk, Reichsluftschutzbund und Reichsnährstand wurden den Appenheimern selbstverständliche Begriffe. Widerstand regte sich kaum, allenfalls in den „ungültigen“ Stimmen bei den verschiedenen Volksabstimmungen, die ja keine freie Entscheidung zuließen. Eine – meist innere – Ablehnung läßt sich noch am ehesten bei den kirchentreuen Appenheimern vermuten, wobei es allerdings konfessionell bedingte Unterschiede gab. Die katholische Minderheit war zunächst durch den Versuch ihrer politischen und geistlichen Führung, mit dem Nationalsozialismus ein Auskommen zu finden (Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz, Reichskonkordat) verunsichert.

Doch zeigte sich gerade auf örtlicher Ebene schon bald der unversöhnliche Gegensatz zwischen dem Katholizismus und dem „Neuheidentum“ der Nazis: Als die katholische Kirche in Appenheim 1935 renoviert wurde, ließ der Pfarrer an der Empore den Spruch anbringen: „Christus siegt, Christus herrscht, Christus triumphiert“. Das Schild hatte durchaus politischen Charakter, denn es sollte „ein Trost für den gläubigen Christen sein, daß er sich auch durch die heftigen Angriffe der gegenwärtigen Zeit gegen alles positive Christentum nicht entmutigen lassen soll.“ Der Pfarrer suchte nicht die direkte Konfrontation mit dem Regime, vermied aber jedes Zusammen wirken mit der Partei und notierte erfreut, „daß die Pfarrkinder sich politisch – von einzelnen unrühmlichen Ausnahmen abgesehen – von allem fernhielten und nach wie vor treu zur Kirche standen.“ Was er in seinen Predigten wegen der dauernden Be spitzelung nur andeuten konnte, vertraute er der Chronik ausführlicher an. Er schrieb darin: „Der katholischen Kirche stand die (Nazi-)Bewegung von Anfang an feindselig gegenüber, und zwar vor allem durch Überspitzung der Rassenlehre und durch einen krassen Materialismus. Bischöfe, Priester, kirchliche Einrichtungen werden offen geschmäht, ohne daß irgendeine Verteidigung möglich ist; denn Wahlfreiheit, Rede freiheit, Pressefreiheit sind in diesem sogenannten Dritten Reich total unterdrückt und Schnüffelei, Denunzierung mißliebiger Menschen an der Tagesordnung. Im Kampfe gegen jede positive Religion können Nationalsozialismus und Kommunismus sich ruhig die Hände reichen…“. In seiner ablehnenden Haltung zum Nazi-Re gime fand der katholische Pfarrer Rückhalt beim Mainzer Bischof Albert Stohr, der übrigens 1922/23 als Kaplan in Oberhilbersheim bzw. Appenheim gewirkt hatte. Denn auch die Bischöfe waren inzwischen von der Unvereinbarkeit von Katholizismus und Nationalsozialismus überzeugt, zumal das Reichskonkordat von 1933 den Ausbruch eines Kirchenkampfs nicht verhindert hatte.

In dieser Auseinandersetzung mit Partei und Staat war die Lage des deutschen Protestantismus schwieriger, da die evangelische Kirche nicht so einheitlich reagieren konnte wie die katholische. So war es den Nazis ja – wie erwähnt – gelungen, einen Teil der Protestanten durch die „Reichskirche“ auf ihre Seite zu bringen. Doch gab es auch die Gegenbewegung der „Bekennenden Kirche“, die die Staats- und vor allem Rassenlehre Hitlers ablehnte. Ihr stand wohl jener evangelische Pfarrer nahe, der von 1934 bis 1938 in Appenheim wirkte. Zwar nahmen an dem von ihm gehaltenen Trauergottesdienst für den verstorbenen Reichspräsidenten Hindenburg (5. August 1934) noch die örtlichen Parteiorganisationen teil, doch kam es bald zu Spannungen mit dem Pfarrer. Dieser sprach in seiner Chronik schon Ende 1934 vom „Kirchenkampf‘, lud Redner, die mit der Linie von Reichsbischof Müller nicht übereinstimmten, nach Appenheim ein und verwahrte sich öffentlich gegen Ausfälle eines Lehrers über das „verjudete“ Alte Testament. Kein Wunder, wenn die Gendarmerie bei ihm im Auftrag der „Geheimen Staatspolizei“ (Gestapo) eine Hausdurchsuchung durchführte – allerdings ohne die vermuteten „kirchenpolitischen Druckschriften“ zu finden. Nach Ansicht des Pfarrers hatte die Ortsgruppenleitung der NSDAP Spitzel in den Kirchenvorstand eingeschleust, und in vielen Appenheimer Familien riß der Kirchenkampf tiefe Gegensätze auf. Unbeirrt hielt der Pfarrer an dem für die Menschen aller Rassen gültigen Evangelium fest und suchte – wie sein katholischer Kollege – das „Neuheidentum“ der Nazis abzuwehren. Dennoch machten sich in der Gemeinde auch „deutschchristliche“ Bestrebungen bemerkbar und es kam zu Kirchenaustritten aus rein politischen Gründen. So schrieb ein Gemeindemitglied dem Pfarrer: „Wir Nationalsozialisten waren von jeher kompromißlos und so vereinbart es sich nicht, daß ich mich länger zu einer Glaubensrichtung bekenne, die in diesem Falle schon längst keine mehr ist, denn ich kenne nur Deutschland . . .“. Die Ausschaltung des evangelischen und katholischen Pfarrers aus dem schulischen Religionsunterricht (1938) war eine weitere Verschärfung des Kirchenkampfes.

Natürlich hatten nicht nur die überzeugten Katholiken und Protestanten Appenheims unter der Nazi-Diktatur zu leiden. Viel schlimmer erging es z. B. den Appenheimerjuden, deren Schicksal Erich Hinkel im Einzelnen aufgezeichnet hat. Es begann 1933 mit der Verdrängung aus dem Wirtschaftsleben, ging weiter mit der Diskriminierung durch Judenstern und Nürnberger Gesetze (1935) und endete meist mit dem Tod im KZ Theresienstadt.

Das war Ende 1942, als längst der Zweite Weltkrieg tobte. 1936 hatten Hitlers Truppen das entmilitarisierte Rheinland besetzt, was sicher bei den meisten Appenheimern Zustimmung fand. Mit der Rheinlandbesetzung begann eine Serie von Rechtsbrüchen Hitlers, die alle einem ungeheuren Eroberungsdrang dienten; die Großmächte sahen dem teils untätig, teils allzu beschwichtigend zu. 1938 kam es zum Anschluß Österreichs – dessen in der Appenheimer Pfarrkirche „mit Freude und Dankbarkeit gegen Gott“ gedacht wurde -, wenig später wurde das Sudetenland dem Reich angegliedert, dann die „Resttschechei“ zerschlagen. Erst als Hitler im September 1939 Polen angriff, erklärten England und Frankreich Deutschland den Krieg. Die Stimmung im Dorf war damals ähnlich wie im August 1914, eher noch gedrückter:„Aus Appenheim eilten in den Tagen um den 1. September 1939 etwa 50 Mann zu den Waffen. Besonders die älteren unter ihnen, die schon am vorigen Krieg teilgenommen hatten, gingen schweren Herzens.“ Wieder gab es Einquartierungen, wurden Sammlungen durchgeführt und „besondere Gottesdienste“ abgehalten – zunächst für die „siegreiche Beendigung“ eines Feldzuges, dann immer öfter für die Gefangenen, Vermißten und Gefallenen. Immer mehr Appenheimer Familien erhielten traurige Nachricht von der Front oder aus einem Lazarett, immer häufiger spürte das Dorf, daß die offizielle Propaganda vom nahen Endsieg und die Wirklichkeit des Krieges weit auseinanderklafften. Schon 1942 fielen in der Gemarkung die ersten Bomben. 1944 kamen Evakuierte aus Frankfurt, Mainz und Bingen nach Appenheim, um dem Bombenkrieg der Alliierten zu entgehen. Im Herbst dieses Jahres wurden die Feldarbeiten durch Tiefflieger stark behindert. Seit November 1944 übte auch in Appenheim der „Volkssturm“, ein Aufgebot meist alter oder ganz junger Männer. Von der zusammenbrechenden Westfront strömten Anfang 1945 deutsche Truppen an den Rhein zurück. Am 19. März hatten amerikanische Soldaten bereits Oberhilbersheim beschossen und abends besetzt. In Appenheim trat noch einmal der Volkssturm an. „Beim Antreten, so heißt es in der Pfarrchronik, wurde das Dorf beschossen, besonders der Westteil an der Straße nach Aspisheim. Ein Wohnhaus wurde zum Teil zerstört. Der Volkssturm verlief sich. Am 20. März 1945 kamen die ersten amerikanischen Panzer von Niederhilbersheim um 8.45 h ins Dorf. 10 Häuser mußten geräumt werden. Nach 12 Tagen wurden sie wieder an die Besitzer zurückgegeben. In der ersten Zeit bestand ein Ausgangsverbot von 17.00-5.00 h. Gewehre, Munition, Operngläser, Fotoapparate mußten abgegeben werden.“

Für Appenheim war der Zweite Weltkrieg also am 20. März 1945 zu Ende, für ganz Deutschland am B. Mai. Der von Goebbels propagierte „totale Krieg“ hatte in die totale Niederlage geführt. Deutschland war besiegt, verwüstet, besetzt und bald geteilt und hatte seine staatliche Eigenständigkeit verloren. Hitlers Eroberungsdrang und Rassenwahn hatten Millionen Menschen das Leben gekostet. Dazu gehören neben den Juden unserer Gemeinde jene 63 Appenheimer, die als Soldaten gefallen oder vermißt sind. Ihre Zahl war doppelt so hoch wie im Ersten Weltkrieg und das sechsfache von der des Krieges 1870/71.

Mit dem Zweiten Weltkrieg ist die Appenheimer Geschichte natürlich nicht zu Ende, doch beginnt nun schon die Zeit, in der wir selber noch stehen. Wie es nach 1945 auch in unserem Dorf weiterging, wie sich ein zunächst allmählicher, dann unerwartet rascher Wiederaufbau in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft vollzog, darüber berichtet der Aufsatz von Bürgermeister Hofmann.

Die Geschichte von Appenheim: Das ist eine Kette von 40 Generationen, das Leben vieler Menschen mit all seinen Härten und Freuden, das sind über 1100 Jahre Wohnen und Arbeiten am gleichen Ort. Die Appenheimer Vergangenheit liefert uns kleine, aber anschauliche Ausschnitte aus der deutschen Geschichte, zeigt, wie sich die Entwicklungen in Politik, Staat, Kirche, Wirtschaft und Gesellschaft in einem rheinhessischen Dorf niedergeschlagen haben. Darüber hinaus hat sie ihren Eigenwert, denn sie ist die Grundlage, auf der die alten und neuen Appenheimer stehen. Appenheims lange Geschichte ist sicher weiteren Nachforschens wert -aber auch des Nachdenkens, zumal in ihren jüngeren Abschnitten. Obwohl er hier nur die Vergangenheit betrachtet hat, möchte der Historiker zum Schluß doch einmal nach vorne blikken und der Gemeinde Appenheim für die Zukunft Glück wünschen: ein gutes Miteinander in Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden. 

Verfasser: Dr. Franz Dumont aus Mainz Beitrag von 1983